1. Hintergrund

Während der aktuellen COVID-19-Krise sind die Organe von Kapitalgesellschaften – einschließlich des Aufsichtsrats – gefordert, richtungsweisende Entscheidungen zu treffen. Im Hinblick auf die in dieser Form noch nie dagewesene Ausnahmesituation – und die daraus resultierende Ungewissheit – scheint das Damoklesschwert der Organhaftung über jeder solchen Entscheidung zu schweben. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die (eine Haftung ausschließende) Business Judgement Rule („BJR“) unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Krisensituation.

 Die BJR basiert auf dem Grundsatz, dass Organmitgliedern bei ihren unternehmerischen Entscheidungen ein weites Beurteilungs- und Entscheidungsermessen zukommt. Gemäß der BJR handelt ein Organmitglied daher „jedenfalls im Einklang mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ – und befindet sich somit haftungstechnisch in „sicheren Gewässern“ – wenn es bei seiner Entscheidungsfindung alle in § 83 Abs 1a AktG (bzw dem nahezu wortgleichen § 25 Abs 1a GmbHG) genannten (formalen bzw prozessualen) Voraussetzungen erfüllt. Gemäß § 99 AktG (bzw § 33 Abs 1 GmbH) sind diese Regelungen zur BJR auch auf den Aufsichtsrat und seine Mitglieder anwendbar.

2. Tatbestandselemente der BJR

Ein Aufsichtsratsmitglied bleibt nach der BJR von der Haftung frei, wenn es sich „bei einer unternehmerischen Entscheidung nicht von sachfremden Interessen leiten lässt und auf der Grundlage angemessener Information annehmen darf, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“ Im Einzelnen müssen demnach folgende Voraussetzungen (kumulativ) vorliegen:

a. Unternehmerische Ermessensentscheidung

Die BJR ist grundsätzlich nur auf unternehmerische Entscheidung anwendbar. Im Bereich des zwingenden Rechts, etwa kraft Gesetzes, Anstellungsvertrag, Geschäftsordnung oder verbindlichen Anordnungen findet die BJW hingegen keine Anwendung. Eine gewisse Ausnahme davon besteht, sofern die Ermittlung des eine Rechtspflicht auslösenden Sachverhalts hinreichend komplex und mit Unsicherheit verbunden ist. Dann besteht ein Beurteilungsspielraum des Vorstandes – die BJR kommt diesbezüglich zur Anwendung. Dies betrifft etwa die Erstellung einer Fortbestehensprognose und die damit allfällig einhergehende Verletzung der Insolvenzantragspflicht.

 b. Handeln auf Grundlage angemessener Information

Ein Kernelement der BJR ist die Entscheidung „auf Grundlage angemessener Information“. Dabei sind zum einen je nach Bedeutung, Komplexität und Gefahrenneigung der Entscheidung höhere oder niedrigere Anforderungen an die Informationsbeschaffung zu stellen. Ferner zu berücksichtigen sind Faktoren wie die für die Entscheidungsfindung verfügbare Zeit, die faktischen und rechtlichen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung sowie das Verhältnis von Kosten und Nutzen der Einholung von Informationen.

 Das Maß der gebotenen Informationsbeschaffung ist generell situationsbezogen zu bestimmen. Damit wird Bedacht auf (Ausnahme-)Situationen genommen, in denen Organmitglieder innerhalb (sehr) kurzer Zeit Entscheidungen treffen müssen, obwohl belastbare Informationsgrundlagen kaum bis gar nicht beschafft werden können. Dies ist auch in der aktuellen Situation relevant. Bei der Beurteilung, ob eine angemessene Informationsgrundlage vorliegt, ist daher zu berücksichtigen, dass in Zeiten der Ungewissheit die BJR auch dann zur Anwendung kommt, wenn eine umfassende Informationsbeschaffung nicht möglich ist, Unsicherheiten verbleiben.

 c. Handeln zum Wohle der Gesellschaft

Die dritte Voraussetzung der BJR ist, dass das ein Organmitglied „annehmen darf, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Bei der Beurteilung dieser Voraussetzung ist der unternehmerische Ermessensspielraum der Organmitglieder in ausreichender Weise zu berücksichtigen, sodass im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des OGH nur grobe Fehlbeurteilungen zum Ausschluss der Anwendbarkeit der BJR führen sollen. Lediglich inhaltlich unvertretbare Ermessensausübungen sollen vom Schutz der BJR ausgenommen sind. Damit wird man auch für diese Voraussetzung die mangelnde Vorhersehbarkeit der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bei der Frage berücksichtigen müssen, ob Risiken einer Geschäftsentscheidung im Rahmen des zulässigen Ermessensspielraums getroffen wurden. Damit vergrößert die coronabedingte Unsicherheit grundsätzlich auch in diesem Fall den Ermessensspielraum.

 d. Keine sachfremden Interessen

Als letzte Voraussetzung normiert das Gesetz, dass sich ein Organ bei seiner Entscheidung nicht von sachfremden Interessen leiten lässt. Dabei sind grundsätzlich all jene Interessen als sachfremd zu qualifizieren, welche von jenen der Gesellschaft abweichen. Zu Berücksichtigten ist jedoch die gesetzliche Wertung in § 70 AktG, wonach auch Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer sowie das öffentliche Interesse als Interessen der Gesellschaft mitzuberücksichtigen sind. Dem Schutz der BJR unterliegen demnach Entscheidungen nicht, für welche sachfremde Interessen oder Interessenskonflikte kausal waren. Nach Ansicht des OGH genügt hierfür bereits die persönliche Zu- oder Abneigung eines Organmitglieds gegenüber einzelnen Personen und sind Geschäfte zwischen der Gesellschaft und dem Organmitglied oder mit diesen nahestehenden Personen jedenfalls von der Anwendbarkeit der BJR ausgenommen.

 Ein allfälliges Konzerninteresse ist im Anwendungsbereich der BJR nur ausgerichtet am Wohle der einzelnen Konzerngesellschaft zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Bestand des Konzerns (gerade bei intensiven vertraglichen Verflechtungen) sehr wohl auch im Interesse der einzelnen Konzerngesellschaft liegen kann. Dies ist in der Praxis insbesondere bei Cash Pooling und bei Gewinnausschüttungen von Relevanz. Bei der Abwägung zwischen der Ausschüttung von Gewinnen und der Inanspruchnahme von finanziellen Maßnahmen der COVID-19-Finanzierungsagentur des Bundes GmbH (welche meist eine Verpflichtung der Geschäftsleitung erfordern, Gewinnausschüttungen „angepasst zu gestalten“) gibt es vor diesem Hintergrund wohl keine Patentlösung. Den Regeln um Stimmenthaltungen kommt hierbei besondere Bedeutung zu.

3. Ausreichende Dokumentation

Um vom sicheren Hafen der BJR profitieren zu können, ist es in der Praxis von zentraler Bedeutung, die Einhaltung der Voraussetzungen der BJR, insbesondere die sorgfältige Aufbereitung und Berücksichtigung einer angemessenen Informationsgrundlage sowie die Würdigung von Risiken alternativer Entscheidungsoptionen, ausreichend zu dokumentieren. Bei mündlicher Informationsbeschaffung ist die Anfertigung von Gesprächsnotizen ratsam. Dies ist besonders im Hinblick auf die für Organmitglieder ungünstige Beweislastverteilung entscheidend, wonach es den Organmitglieder selbst obliegt das Vorliegen der Voraussetzungen der BJR zu beweisen.